Diese Geschichte ist von 2002, und sie ist mir wirklich fast so passiert. Ich habe sie bewusst eben nicht "korrekturgelesen", sondern meinen Stil von vor so vielen Jahren einfach so stehengelassen.
Dies ist meine kleine Weihnachtsgeschichte für euch.
Die Frau für den Blumenstrauß.
Es ist ein bißchen kompliziert zu erklären, wie ich zu dem Blumenstrauß kam an diesem grauen, triesten und windigen Tag im November. Das Wetter war kalt und richtig unangenehm, aber ich war überzeugt davon, daß jetzt ein guter Zeitpunkt war, meine Tante im Spital zu besuchen, die eine Operation an der Zehe hinter sich zu bringen hatte. Ich packte mich warm ein, nahm mir einen Stadtplan von W. mit und stieg in den Zug. Nach einer Stunde Fahrt hatte ich herausgefunden, daß das Spital ein weites Stück vom Bahnhof entfernt lag und ich sicherlich noch eine dreiviertel Stunde dorthin unterwegs war. Mißmutig stieg ich aus dem Zug und sah mich nach der richtigen Straßenbahnhaltestelle um. Der Wind wirbelte mir die Haare durcheinander und schien mit Leichtigkeit durch meine Jacke und den warmen Pullover auf meine Haut zu dringen. Ich fröstelte und ging weiter.
Als ich nach einer guten Stunde endlich in der Nähe meines Zieles angekommen war, sehnte ich mich nur noch nach einem heißen Kaffee und einem Stück Schokolade. Der Gedanke, daß ich in ein paar Minuten in einem kahlen Krankenhauszimmer mit desinfisziertem Geruch sitzen würde, gefiel mir gar nicht. Aber ich hatte mir die Sache nun mal eingebrockt, so mußte ich sie auch auslöffeln. Als ich fast schon vor dem großen Einfahrtstor war, fiel mir plötzlich siedend heiß ein, daß ich keine Blumen für meine Tante hatte. Das erste Blumengeschäft in der Straße hatte geschlossen, aber im zweiten fand ich einen wunderschönen, bunten Strauß, für seine Größe recht billig, den ich kaufte. Er war orange und weiß, mit großen Blüten und duftete himmlisch. Sogar eine kleine Maus aus Bast steckte darin.
Ich machte mich also wieder auf den Weg zurück ins Spital. Noch immer blies der Wind und die eine Hand, mit der ich den Blumenstrauß festhielt, wurde schon ganz klamm und gefühllos. Ich hasste das. Aber ich liebte wiederum das Gefühl, wenn man dann ins Warme kam, und die Hände langsam wieder auftauten und zu prickeln begannen, wenn die Wangen von der Wärme zu glühen begannen und man sich erleichtert von Schal und Mantel befreite. Diese Gedanken beschäftigten mich, als ich auf dem kurzen Weg die Straße wieder hinauf in Richtung Spital gegen den Wind und die Kälte kämpfte.
Ich trat an die Rezeption und fragte, in welchem Zimmer meine Tante zu finden sei. Der ältere Mann, der dort saß und mit einem Zweiten plauderte, schaute mich verwundert an: „Nein, also wir haben sie gestern Nachmittag entlassen. Sie sind zu spät. Ich muß Sie enttäuschen.“ Ich schaute anscheinend so verdutzt drein, daß der Mann unwillkürlich grinsen mußte: „Es tut mir wirklich Leid, aber bitte – freuen Sie sich doch, daß sie schon so früh entlassen werden konnte. Und... wollen Sie mir vielleicht den Blumenstrauß dalassen, wo Sie ihn doch jetzt nicht mehr brauchen?“ Das war genug, ich kam mir sowieso schon vor wie der letzte Idiot und dann konnte ich mir auch noch DAS anhören. Ich brachte außer einem wütenden Schnauben nur ein „Auf Wiedersehen“ heraus und stürmte hochrot aus dem Spital.
Als ich ein paar Meter gegangen war, hatte ich mich endlich beruhigt und schaffte es wieder, einen klaren Gedanken zu fassen. Irgendwie hatte der Mann an der Rezeption recht gehabt mit dem Blumenstrauß. Was tun damit? Im ersten Moment wollte ich ihn mit nach Hause nehmen, aber dann fiel mir ein, daß es noch ein paar Dinge in der Stadt zu erledigen gab, wobei er mir sicherlich nur hinderlich gewesen wäre. Zurückgehen konnte ich nun auch nicht, das ließ mein Stolz nicht zu. Während ich weiterging, kam mir dann endlich eine Idee: Ich hatte einen so schlechten Tag gehabt, hatte die ganzen Strapazen scheinbar völlig umsonst auf mich genommen – also wieso sollte ich einem anderen Menschen diesen grauen, kalten Tag nicht verschönern und den Blumenstrauß einfach herschenken?
So machte ich mich auf die Suche nach dem Menschen, dem ich diesen Strauß schenken wollte. Ich beschloß, der nächstbesten Frau, die nicht allzu abweisend dreinschaute, den Strauß in die Hand zu drücken, ihr einen schönen Tag zu wünschen und weiterzugehen. Ich hatte keine Lust auf lange Reden und Erklärungen, ich wollte es hinter mich bringen.
Sorgfältig musterte ich die entgegenkommenden Passanten. Die ersten zehn konnte ich ohne groß zu überlegen aus meinem Spiel ausscheiden lassen: Sie machten griesgrämige Gesichter, plapperten genervt in ihre Handy´s oder kämpften mit dem grausamen Wetter, das einfach nicht besser werden wollte. Nach einiger Zeit sah ich eine kleine Familie an der gegenüberliegenden Straßenecke stehen. Fest entschlossen, nun endlich das unhandliche Ding loszuwerden (ich fand es schon gar nicht mehr schön!), überquerte ich die Straße und erklärte in zwei knappen Sätzen meine Situation. Damit wollte ich der völlig überraschten Frau den Strauß in die Hand drücken, aber bevor ich das tun konnte, erklärte mir ihr Mann, daß sie selber nur für diesen einen Tag angereist wären und mit einem großen Blumenstrauß – so schön er auch wäre – rein gar nichts anfangen könnten.
Nun gut, dachte ich, erster Versuch fehlgeschlagen, also weiter, und nur nicht entmutigen lassen. Aber ich hatte auch weiterhin kein Glück. Einmal fand ich, die Person brauche keinen Blumenstrauß, dann kamen mir fünf Minuten lang nur Männer entgegen.
Aber dann, nach geraumer Zeit und nach dem Verlust einiger Nerven, bog ich in die letzte Straße vor meiner Straßenbahnhaltestelle ein und sah eine kleine, alte Frau vor einer halboffenen Türe stehen und ein bißchen aufgeregt nach links und rechts blicken. Ich sah, sie hatte ein verhutzeltes Gesicht mit kleinen, dunklen Knopfaugen, die gutgelaunt unter ihrem Hut hervorblitzten. Ich war erleichtert – ihr wollte ich den Strauß schenken. Ich ging auf sie zu und räusperte mich vor ihr, um sie nicht zu erschrecken: „Entschuldigung, bitte. Würden Sie als Geschenk von mir diesen Blumenstrauß annehmen?“ Schnell erklärte ich ihr, warum, und – siehe da – ihr kamen fast die Tränen vor Rührung: „Daß es sowas heute noch gibt! Einfach so einen Blumenstrauß, und dazu noch so einen schönen! zu verschenken... aber wie komm denn ich dazu?? Auf einmal? Na, kommen Sie doch rein, bei dem Sauwetter ist es doch das mindeste, daß ich Sie auf einen Kaffee einlade...“ Jetzt erst sah ich, daß es sich bei der halboffenen Eingangstüre um ein Café handelte und dankend nahm ich die Einladung an. Als ich mich aus meinen dicken Schichten geschält hatte, erklärte die alte Dame dem Kellner, was ihr gerade passiert sei, und er lächelte und brachte mir meinen heißersehnten Kaffee. Auf einmal kam mir vor, als wäre es in mir wärmer geworden. Die Fingerspitzen begannen zu kribbeln, ich spürte langsam meine Zehen wieder und in mir – da hatte der Wind auch einiges eingefroren – wurde es ganz warm und ich fühlte mich wie in einem Schaumbad oder an einem Sommernachmittag im Juli. Die kleine Frau mir gegenüber sagte: „Wissen Sie, ich warte nämlich auf meinen Mann!“ – Sie klang ganz stolz – „Darum bin ich draußen gestanden. Er muß jeden Moment hier sein. Was wird er wohl dazu sagen??“ Und sie lachte und roch an den Blumen.
Ein paar Minuten später – ich genoß noch immer das Gefühl der Wärme und des Goldglanzes in mir drinnen – ging die Tür mit einem Schwung auf und ein alter Herr kam herein. Er schüttelte sich und murmelte irgendwelche wüsten Beschimpfungen über das Wetter, bis er an den Tisch gekommen war, an dem die alte Frau und ich saßen. Die zwei sahen sich an, und augenblicklich verstummte er. Liebevoll lächelnd küßte er sie auf den Mundwinkel, und ganz Gentleman nahm er den Hut ab und gab mir die Hand. Seine Frau erklärte die Situation, als er sich setzte, und da meinte er ganz entrüstet: „Na, da hätte ich doch mein schönes Hemd und die Krawatte anziehen sollen, wenn ich das gewußt hätte! Sie sind natürlich eingeladen...“ Die alte Frau legte ihm die Hand auf den Unterarm und beschwichtigte ihn: „Aber ich bitte dich, das hab ich doch schon längst getan...“
So saß ich dann noch eine Viertelstunde mit den beiden alten verliebten Leuten zusammen und trank meinen Kaffee, während mir der Mann ganz stolz erzählte, er wäre „schon 57 Jahre, drei Monate und eine Woche“ in seine Frau verliebt. Sie schaute ihn verträumt an und meinte: „Aber geh...“
Als ich mich verabschiedete, bedankten sich beide noch einmal für den Blumenstrauß. Ich wünschte ihnen noch weitere schöne Jahre miteinander und ging mit einem Hochgefühl des Glücks hinaus in den kalten Wind. Mir wurde an diesem Nachmittag nicht mehr kalt, und kein einziges Mal, bis ich zu Hause schlafen ging, wich das Lächeln der einfachen Zufriedenheit aus meinem Gesicht.
Ich saß in der Straßenbahn und dachte nach. Noch einmal sah ich sie vor der Türe stehen, aufgeregt nach links und rechts blickend. Was mußte das für eine Liebe sein, dachte ich. Nach so vielen Jahren hält sie es immer noch nicht aus, ohne ihn zu sein, und vielleicht war er nur eine Zeitung holen gegangen, oder auf die Bank. Ich konnte das nicht wissen! Und ihre Augen – wie die der kleinen Maus aus Bast, oben auf dem Blumenstrauß. Ich erinnerte mich an den Augenblick, wo ich den Strauß am liebsten weggeworfen hätte, weil er mir so gar nicht mehr gefiel – aber am Ende war er der Schönste gewesen, den ich je gesehen hatte. Und – hatte er mir nicht viel mehr gegeben, als ich mit ihm verschenkt hatte, als ich ihn der Frau gab?
Ich war überzeugt davon: Ich hatte die Frau für den Blumenstrauß gefunden – und mich selber auch, indem ich etwas gegen die innere Kälte getan hatte, die mich schmerzte.
Ich griff in meine Manteltasche und suchte nach einem Taschentuch. Da ertastete ich auf einmal etwas, das sich zuvor nicht darin befunden hatte. Ich zog es heraus – es war die Bastmaus! Sie schaute mich an mit ihren Knopfaugen, und blinzelte fröhlich und aufgeregt in mein Gesicht, als hätte sie auf mich gewartet!
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